- Physiknobelpreis 1995: Martin Lewis Perl — Frederick Reines
- Physiknobelpreis 1995: Martin Lewis Perl — Frederick ReinesDie Amerikaner wurden für »ihre experimentellen Pionierbeiträge auf dem Gebiet der Leptonphysik« ausgezeichnet.BiografienMartin Lewis Perl, * New York 24. 6. 1927; 1948 Abschluss des Chemiestudiums in New York, danach Physikstudium und Promotion im Jahr 1955, 1955-63 Assistenzprofessor an der University of Michigan, anschließend Wechsel an die Stanford University in Palo Alto.Frederick Reines, * Paterson (New Jersey) 16. 3. 1918, ✝ Irvine (Kalifornien) 26.8.1998; 1944 Promotion an der New York University, anschließend bis 1959 Arbeit am Los Alamos Nationallaboratorium, 1959-66 am Case Institute of Technology in Cleveland (Ohio), 1966-88 Professor an der University of California in Irvine (Kalifornien).Würdigung der preisgekrönten LeistungDie beiden Amerikaner, die 1995 in der Physik ausgezeichnet wurden, haben unser Verständnis der elementaren Bausteine der Materie beide auf ihre Art wesentlich erweitert. Vom heutigen Wissensstand aus gesehen lassen sich ihre Leistungen elegant unter ein gemeinsames thematisches Dach bringen, das aber über die Verschiedenartigkeit ihrer Leistungen nicht hinwegtäuschen darf: Frederick Reines und Martin Perl wurden beide für ihre experimentellen Pionierbeiträge zur so genannten Leptonphysik geehrt. Als Leptonen (von griechisch leptos: leicht, schwach) werden in der Physik der Elementarteilchen jene Teilchen bezeichnet, die keinen Anteil an der so genannten starken Wechselwirkung haben, welche die Atomkerne zusammenhält. Bekanntester Vertreter der Leptonen — genau genommen, der einzige uns aus der Alltagsphysik vertraute Vertreter — ist das Elektron.Auf der Suche nach dem PoltergeistDie Geschichte des Nobelpreises von Frederick Reines beginnt mit einer kühnen Hypothese: 1930 postulierte Wolfgang Pauli (Nobelpreis 1945), dass beim Betazerfall außer dem Betateilchen, dem Elektron, noch ein weiteres Teilchen entstehen müsse. Auf diese Weise suchte er das für die Physiker äußerst beunruhigende Problem zu lösen, dass die Betateilchen aus dem Zerfall eines bestimmten Elements keinesfalls jedes Mal die gleiche Energie besaßen. Um die unterschiedliche Energie der jeweils abgestrahlten Elektronen zu erklären (und so den Energieerhaltungssatz zu retten), vermutete Pauli, dass noch ein weiterer Partner beteiligt wäre, der auch einen — jeweils veränderlichen — Teil der Zerfallsenergie davontrüge. Der einzige Haken war, dass man ein solches Teilchen bislang nicht ansatzweise beobachtet hatte. Pauli kommentierte diese Situation mit dem berühmt gewordenen Satz: »Ich habe etwas, das wir nicht verstehen, ersetzt durch etwas, das wir nicht beobachten können.» Paulis Hypothese wurde 1934 von dem genialen italienischen Physiker Enrico Fermi aufgegriffen und in eine allgemein akzeptierte, vollständige theoretische Erklärung des Betazerfalls eingebaut, und kaum jemand zweifelte öffentlich an der Existenz des so genannten Neutrinos (»kleines Neutrales«, da man wusste, dass es keine elektrische Ladung trug). Bei dieser Situation blieb es bis 1951, als Frederick Reines und Clyde Cowan, zwei in Los Alamos an Atombombentests arbeitende Physiker, sich aus schierer Lust an der Herausforderung vornahmen, dieses für nicht nachweisbar gehaltene Teilchen dingfest zu machen. Projektname: »Poltergeist«. Ihre Hoffnung auf Erfolg gründete sich unter anderem auf den Umstand, dass bei einer unterirdischen Atombombenexplosion eine riesige Menge Neutrinos auf einmal ausgestoßen werden; diese massive Ausschüttung würde sich vermutlich vom »normalen« Neutrinofluss (von der Sonne beziehungsweise aus dem Weltraum auf die Erde) abheben. Die Schlüsselidee der Experimentatoren war es, die Wasserstoffkerne (Protonen) in ihrem Detektor durch ein Antineutrino dazu zu bringen, sich in ein Neutron (plus ein Positron, den Antiteilchen-Bruder des Elektrons) umzuwandeln. Dieser Prozess heißt inverser Betazerfall, denn normalerweise zerfällt gerade umgekehrt ein Neutron in ein Proton (plus Elektron und Antineutrino). Während das Positron zerfällt und durch einen entsprechenden Strahlungspuls nachgewiesen werden kann, wird das Neutron mit einer charakteristischen Verzögerungszeit von einem Atom eingefangen. Auch dieser Prozess liefert einen elektrischen Puls, das heißt, die gesamte Reaktion musste sich durch eine Folge von zwei elektromagnetischen Strahlungspulsen (Lichtquanten) mit einem genau definierten zeitlichen Abstand identifizieren lassen. Tatsächlich gelang es Cowan und Reines, solche Ereignisse zu finden; sie benutzten allerdings dann doch nicht die Neutrinos aus einer Bombenexplosion, sondern aus einem Kernreaktor. 1956, nach endlosen, mühsamen Versuchsreihen und Abwandlungen, konnten sie einen zweifelsfreien Nachweis des (Anti-) Neutrinos bekannt geben. Obwohl die Neutrinos inzwischen seit vielen Jahren als eine Teilchenart anerkannt sind, die für viele fundamentale Fragen der Physik von Bedeutung ist (Nobelpreis 1988), wurde diese Leistung erst so spät mit dem Nobelpreis gewürdigt, dass einer der beiden Protagonisten, Cowan, dies nicht mehr erlebte.Nachweis eines schweren BrockensIm Vergleich zu dieser Poltergeistsuche liegt Martin Perls Verdienst im Nachweis eines »schweren Brockens«. Er arbeitete in den 1970er-Jahren in Stanford an dem Teilchenbeschleuniger SPEAR. SPEAR beschleunigte in zwei Strahlen Elektronen und ihre Antiteilchen, Positronen, und schickte die beiden Strahlen frontal aufeinander. Als Teilchen und Antiteilchen zerstrahlten sie miteinander, und aus der so gewonnenen Energie entstanden neue Teilchen-Antiteilchen-Paare. Unter anderem entstanden dabei Paare von Müon und Antimüon; das Müon ist ein »schwerer Bruder« des Elektrons, das bereits Ende der 1940er-Jahre entdeckt worden war. Es ist recht kurzlebig und zerfällt zum Beispiel in ein Elektron und Neutrinos. Perl gehörte zu den ganz wenigen Physikern, die es für möglich hielten, dass es außer dem Müon noch einen weiteren (kurzlebigen) schweren Bruder des Elektrons geben könnte. Wenn ein solches Teilchen mit seinem Antiteilchen in einer Kollision gebildet würde, könnte, so Perl, beispielsweise ein Partner in ein Elektron und der andere in ein Müon (jeweils mit dazugehörenden Neutrinos) zerfallen. Solche Zerfälle, bei denen keine weiteren Teilchen beobachtet würden, wären ein sicherer Hinweis auf die Existenz eines dritten »schweren Leptons« neben Elektron und Müon. Tatsächlich fand Perl von Beginn der Datennahme 1974 an genau diesen Typ Ereignisse. Die Tücke des Experiments lag hier nicht darin, überhaupt einen Nachweis zu finden (wie bei den Neutrinos); sie lag vielmehr darin, jeglichen Irrtum bei der Identifikation der Zerfallsprodukte, also des Elektron-Müon-Paars, auszuschließen. Sowohl innerhalb der eigenen Arbeitsgruppe am SPEAR als auch weltweit unter den Physikern hatte Perl darum 1974-77 permanent Überzeugungsarbeit zu leisten. Gewissheit stellte sich erst ein, als 1977 auch von einer Arbeitsgruppe am Collider DORIS in Hamburg solche Ereignisse gemeldet wurden. 1978 galt die Existenz eines dritten geladenen Leptons als sicher; es ist etwa doppelt so schwer wie ein Proton und wurde Tau genannt, nach dem Anfangsbuchstaben für triton (griechisch; das dritte).Der Physikpreis von 1995 veranschaulicht, wie sehr sich die Arbeitsweise der Teilchenphysik geändert hat. Statt wie Cowan und Reines um 1955 zu zweit ein Experiment zu konzipieren und durchzuführen, waren in den 1970er-Jahren Dutzende von Physikern an einem Experiment beteiligt (heute sind es oft Hunderte). Überzeugungsarbeit innerhalb der eigenen Arbeitsgruppe ist damit zu einer wesentlichen Station in einem Entdeckungsprozess geworden. Beide Beiträge aber spiegeln die Dynamik und Bedeutung der Teilchenphysik, eines physikalischen Teilgebietes, dessen Grundlagenbedeutung und Prestige nicht zuletzt in der hohen Zahl von Nobelpreisen ihren Ausdruck fand, die im 20. Jahrhundert dafür vergeben wurden.B. Ceranski
Universal-Lexikon. 2012.